Freundschaft

Ein akustisches Signal meines Smartphones kündigt den Eingang einer WhatsApp-Nachricht an: Wie schön, Julia hat mir wieder einmal geschrieben! Von dem Profilbild lacht mich eine gut aussehende selbstbewusste Sechzehnjährige mit einem trendigen Hut auf langen dunklen Haaren an. Wie anders war die Julia, die ich vor sechs Jahren kennenlernte. Viereinhalb Jahre Versagen im Umgang mit der deutschen Sprache, Lehrkräfte in der Grundschule, die ihr suggerierten, „ sie könne es halt nicht besser“ und die Hänseleien der Mitschüler hatten aus der anfangs begeisterten Schülerin ein stilles, unglückliches Mädchen gemacht, das jeden Tag mit Bauchschmerzen zur Schule ging. Es stand sogar die Option eines Wechsels in die Sonderschule im Raum, als ich mich im November 2009 zum ersten Mal mit Julia und ihrer Mutter traf.

Die sehr engagierten Eltern waren sofort bereit, das Training zu unterstützen und so begannen Julia und ich sofort nach der Anamnese und dem ASF-Test mit der Förderung. Lesetraining war ebenso nötig wie Funktionsübungen in den Bereichen Optische Differenzierung und Optisches Gedächtnis. Auch Übungen zur Akustischen Serialität und Raumorientierung wurden nach und nach eingesetzt und durch entsprechende Arbeitsblätter vertieft. Sehr dankbar waren wir für den Nachteilsausgleich, der Julia notenmäßig den Rücken frei hielt!

So richtig aufwärts ging es, als zum Halbjahr der 5. Klasse ein Wechsel an eine Evangelische Privatschule möglich wurde. Die Lehrkräfte dort hatten viel Verständnis für die Legasthenieprobleme Julias und stärkten ihr Selbstvertrauen, während ich mit ihr zusammen weiter an ihren Lese- und Rechtschreibkompetenzen arbeitete. Julia lernte, sich auch über kleine Erfolge zu freuen aber uns allen war klar, dass unser wöchentliches Zusammensein nicht in ein oder zwei Jahren beendet sein würde. Zu gravierend waren die Funktionsstörungen!

Um es kurz zu machen: Julia war bis zum Ende der 9. Klasse regelmäßig bei mir und wir haben diese Stunde pro Woche nicht nur als gemeinsames Arbeiten angesehen, sondern ich erfuhr auch von aufdringlichen Verehrern, Zickenkrieg unter Freundinnen oder der tollen Nachspeise im Kochunterricht, welche die Hauswirtschaftslehrerin über alle Maßen gelobt hatte. Die Noten wurden zunehmend besser und wenn sie zum gefühlt 500sten Mal b und d verwechselte, dann lachten wir darüber und beschlossen, das gehört einfach zu Julia – basta!

Als sie im Juli 2014 als Beste ihrer Klasse und Zweitbeste der ganzen Schule ihr Qualizeugnis in Empfang nahm war ich vermutlich fast ebenso stolz wie ihre Eltern. Ihre Lehrstelle hatte sie sich schon Anfang des Jahres mit einer einzigen Bewerbung gesichert!

Klar, Julia wird immer mit ihrem Handycap zurechtkommen müssen und manche Regeln und Feinheiten der deutschen Sprache bleiben ihr sicher ein Rätsel. Das Lesen dicker Bücher wird sie immer anderen überlassen und wichtige Texte durch die Rechtschreibprüfung des Schreibprogramms kontrollieren.

Aber, und das ist viel wichtiger für mich, das Legasthenietraining hat sie fit gemacht für das Leben.Sie ist sicherer geworden im Umgang mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Aus dem verunsicherten Mädchen ist ein Teenager geworden der an sich glaubt und von seinen Fähigkeiten überzeugt ist. Und das ist für mich ebenso wichtig wie eine Eins in einem Schulzeugnis.

Margit LangMargit Lang 
Bechhofen, Bayern