Ohne Selbstbewusstsein kein Lernerfolg

Nicola kam in der dritten Klasse zu mir, weil es mit Rechnen so gar nicht klappte. Meistens waren ihre Arbeiten außerhalb jeglichen bewertbaren Bereiches. Manchmal erreichte sie eine Fünf, aber nie besser.

Nicola hat eine tolle Lehrerin. Frau Kraus hatte die Mutter darauf aufmerksam gemacht, dass da etwas „schief“ laufe. Sie vermute eine Dyskalkulie. Dies wurde durch meine Tests bestätigt. Frau Kraus war mir gegenüber auch sehr offen und fragte mich, was sie denn noch für Nicola tun könne.

Die Familienanamnese enthüllte, dass auch Nicolas Oma von Dyskalkulie betroffen war. Ich durfte mich mit ihr unterhalten. Sie hatte noch nicht einmal ihren Kindern davon erzählt. Gelddinge habe sie immer ihrem Mann überlassen und in Geschäften habe sie immer getrickst um nicht passend bezahlen zu müssen. Nicht einmal ihre Kinder wussten von ihrer Schwäche. Die Schule war – eine reine Katastrophe. Ja, es sei ihr klar, dass sie ihrer Enkelin so was Schlechtes vererbt habe, sagte sie weinend.

Nicola erzählte viel von ihrer jüngeren Schwester, „die kann Mathe“, sagte sie von fast unhörbar von ihr.

Nicola nahm die Finger unter dem Tisch zum Rechnen, brauchte ewig für einfachste Aufgaben und verzählte sich doch meistens.

Zum Einstieg in unser Training benutzen wir immer Jonglierbälle. Nicola mochte die gar nicht. Sie sollte den Ball von der rechten Hand in die linke Hand werfen. Der Ball flog immer ganz unkoordiniert und weit entfernt in völlig andere Richtungen. Die andere Hand traf er nie. Die Aufgabe schien unlösbar.

Vor unserem Haus steht ein Klettergerüst auf einem Spielplatz. Wir kletterten immer zum Abschluss oder wenn Nicola eine Pause brauchte. Hinauf gab es nie Probleme, aber Nicola musste erst einmal lernen, wie man da wieder hinunter kommt. Erst beim dritten Training klappte der Abstieg, rückwärts herunter, diesmal mühelos.

Nur die Jonglierbälle wollten so gar nicht gehorchen. Den Ball von der einen Hand in die nächste Hand zu werfen klappte überhaupt nicht. Als die Familie für vier Wochen in Urlaub fuhr, bekam Nicola von mir für jeden Tag Aufgaben mit. Sie liebte Suchspiele und erledigte jeden Tag ihre Aufgaben.

Danach trafen wir uns wieder und begannen mit dem Jonglieren. Nicola warf mit der rechten Hand und – fing mit der linken auf! Sie konnte es gar nicht glauben. Also gleich nochmal – und wieder fing sie. Nun klappte die Koordination, die Hände gehorchten, obwohl Nicola die Bälle gar nicht mochte und zu Hause auch nicht geübt hatte.

Eines Tages stand Nicola mit ihrer Mutter vor meiner Tür. Sie hatte etwas hinter ihrem Rücken versteckt. „Weisst du was passiert ist“, sagte sie mit ernstem Gesicht? Sie zog eine Mathearbeit hinter dem Rücken hervor und zeigte mir stolz die Zensur – eine glatte Zwei!

Nicola und ihre Mama strahlten übers ganze Gesicht. Mir liefen Freudentränen über die Backen. Dies war der Durchbruch und Nicolas Matheleistungen bleiben seither konstant gut bis befriedigend…

Ulrike Gräßle-HuangUlrike Gräßle-Huang 
Rottenburg, Baden-Württemberg