Hansjörg kam als 11-jähriger im Rahmen des Praxisteiles während meiner Ausbildung zum Legasthenietrainer im August 2012 zu mir. Hansjörg hatte gerade die vierte Klasse beendet und stand vor dem Übertritt in die Mittelschule. Er wuchs in einem schwierigen sozialen Umfeld auf. Die Mutter berichtete, dass die Schwangerschaft schwierig und nicht ohne Komplikationen verlaufen war. Hansjörg kam als sogenanntes Frühgeborenes in der 31. +1 SSW zur Welt. Er bekam bereits Förderung wegen verzögerter Sprachentwicklung mit sehr undeutlicher Aussprache, 2008 logopädische Therapie bei Dysgrammatismus und Dyslalie zur Verbesserung der Mundmotorik. Dem Bericht des sozialpädiatrischen Zentrums von 2011 war zu entnehmen, dass Hansjörg ein Fall für die Förderschule sei und eher nicht die Regelschule besuchen sollte. Auch sein Vater hatte die Förderschule besucht. Hansjörg war im Sommer 2007 aufgrund einer Sprachverzögerung in die Diagnoseförderklasse des Sonderpädagogischen Förderzentrums xxx eingeschult worden und hat von dort aus im Sommer 2009 den Wechsel in die 2. Klasse der Regelschule vollzogen. Die Mutter berichtete, dass Hansjörg nach der Einschulung in die Förderschule alle seine Freunde verloren hatte und von seinem sozialen Umfeld vollkommen ausgegrenzt war. Als er dann wieder in die Regelschule zurückkam, versuchte er mit allen Mittel wieder Anschluss bei seinen alten Freunden zu finden.
Seine Freunde wurden zu seinem Mittelpunkt, die Hausaufgaben wurden vernachlässigt. Das Problem war aber, dass Hansjörg nur dann gebraucht wurde, wenn die anderen gerade keine Zeit hatten. Waren mehrere Kinder wieder zusammen, war er wieder außen vor. Auch in der Schule wollte er im Mittelpunkt sein und tat alles um von den Mitschülern akzeptiert zu werden. Dies gelang nur dann, wenn sie ein Opfer brauchten.
Als Hansjörg das erste Mal bei mir war, sagte er die für mich schockierende Worte: „Mit mir brauchst du nichts machen, denn ich bin ja für alles zu dumm.“ Auf die Frage wer so etwas sage, antwortete er, alle, auch die Eltern sagten, er sei für alles zu dumm. Hansjörg hatte zu diesem Zeitpunkt weder Selbstbewusstsein noch besaß er ein Selbstwertgefühl.
Gleich zu Beginn des neuen Schuljahres suchte ich den Kontakt mit seiner Klassenlehrerin und der Schule. Dort bat man mich, umgehend Kontakt mit der Schulpsychologin aufzunehmen. Diese meinte, Hansjörg sei ein klarer Fall für die Förderschule. Ich stimmte ihren Ausführungen zu, gab aber zu bedenken, dass Hansjörg bereits sehr negative Erfahrungen mit den Verlust seiner Freunde und der damit verbunden Ausgrenzung gemacht habe und das erneute Herausreißen aus seiner Umgebung schlimme psychischen Folgen für Hansjörg nach sich ziehen würde. Sie willigte ein, dass Hansjörg vorerst die Mittelschule besuchen kann, unter der Bedingung, dass er einmal pro Woche zu mir zum Training kommt.
Hansjörg kam ein mal wöchentlich zum Training. Oft wurde er von uns abgeholt und wieder nach Hause gefahren. Hansjörg fühlte sich bei mir ernstgenommen und erlebte beim Arbeiten und beim Spielen eine Wertschätzung, die er bisher so nicht kannte und die ihm sehr gut tat.
Anfangs war das Augenmerk des Trainings vor allem darauf ausgerichtet, Hansjörg wieder ein Selbstwertgefühl zu vermitteln. Durch das offene AFS Trainingskonzept konnten Übungen aus der Evolutionspädagogik und Brain-Gym gut eingebaut wer-den. Hier erwies sich die Zusammenarbeit mit Hansjörgs’ erfahrenen und kompetenten Lehrerin als hilfreich. Sie bat mich um Tipps für ihren Umgang mit Hansjörg, der im Unterricht sehr unruhig sei und fast untragbar für die Regelschule.
Wir setzen im Fach WERKEN an, weil Hansjörg hierin sehr gut war. Seine Lehrerin kommunizierte mehr auf der Beziehungsebene als auf der Sachebene (reine Wissensvermittlung) mit ihm. Er wurde seinem Lernprofil entsprechend vor ihrem Pult in die erste Fensterreihe gesetzt, und er durfte während des Unterrichts unter seinem Tisch Knetmasse kneten, was ihn wesentlich ruhiger und aufmerksamer machte. Hansjörg bekam auch im Zeugnis seine gerechte Note, nämlich als einziger in der Klasse im Fach WERKEN die Note „Sehr gut“. Er lernte dadurch, dass er etwas kann, was andere nicht können, und dies steigerte sein Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Bereits nach ein paar Monaten war das Thema Regelschule oder Förderschule nicht mehr vorhanden. In Gesprächen mit der Lehrerin bedankte diese sich immer wieder bei mir und betonte, dass ohne meine Hilfe und Einsatz für Hansjörg dies nicht möglich gewesen wäre. Sie sei auch erstaunt, welche Fortschritte er im Bereich Rechtschreibung und Lesen mache. Nach ca. 1 1/2 Jahren zählte Hansjörg in Mathematik zu den drei Besten und in Deutsch tentierte er zur Note 3.
Da die gesamte Entwicklung von der Schulpsychologin verfolgt wurde und wir ständig in Kontakt standen, entwickelte sich auch hier eine gute Zusammenarbeit.
Hansjörg hatte das Glück, von einer Lehrerin unterrichtet zu werden, die gewillt war, ihm zu helfen und ihm mit meiner Unterstützung ein Verbleiben auf der Regelschule ermöglichte.
Gerhard Nehl Arnbruck, Bayern www.stressfrei-lernen.com